Als Systemische Therapie (auch: Systemische Familientherapie wird eine psychotherapeutische Fachrichtung beschrieben, die systemische Zusammenhänge und interpersonelle Beziehungen in einer Gruppe als Grundlage für die Diagnose und Therapie von seelischen Beschwerden und interpersonellen Konflikten betrachtet. In Deutschland ist die systemische Therapie bisher nicht für die Ausbildung zum Psychotherapeuten mit staatlicher Approbation nach dem Psychotherapeutengesetz zugelassen und in der ambulanten Behandlung auch bislang nicht über die gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen. Die Krankenkassen in Österreich und der Schweiz hingegen erkennen sie an.
Auf den gleichen Grundannahmen beruhend hat sich für nichttherapeutische Felder die Systemische Organisationsberatung und Systemisches Coaching entwickelt.
Systemische Therapie: Geschichte
Im Gegensatz zu den klassischen tiefenanalytischen Schulen, die jeweils einen Gründer und ein Zentrum hatten (Sigmund Freud, Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Victor Frankl), hat die systemische Therapie viele Gründungsorte, einige Mütter und viele Väter. Grundlagen des systemischen Ansatzes sind die Systemtheorie und der Konstruktivismus (siehe auch Ernst von Glasersfeld als Begründer des radikalen Konstruktivismus:).
Der Biologe Ludwig von Bertalanffy als Begründer der Allgemeinen Systemtheorie suchte ein allgemeingültig auf die verschiedensten Systeme anzuwendendes Modell und entwickelte hierzu eine Metatheorie. Seine Darstellung entstand aus Beobachtungen gemeinsamer Gesetzmäßigkeiten und deren prinzipieller Grundlagen. Ein System ist hierbei eine Einheit aus Elementen – mehr als deren bloße Summe. Die Elemente haben untereinander und zu anderen Systemen Beziehungen: Solche Wechselwirkungen können selbstverständlich über die Eigenschaften der Elemente Hinausgehendes bewirken.
Systemische Therapie: Familientherapeutisches Denken entwickelte sich so in den 70er und 80er Jahren des 20 Jahrhunderts im Kontext der neuen Wissenszweige der Kybernetik zweiter Ordnung und der Systemtheorie. Im Laufe der Zeit haben sich methodisches Vorgehen und zugrundeliegende Prämissen differenziert, so dass sich heute mehrere Schulen voneinander abgrenzen: strukturelle und strategische Familientherapie, aber auch Familientherapie mit mehreren Generationen (Mailänder Modell und Heidelberger Schule), narrative Ansätze (nach Michael White oder Harold A. Goolishian), Familienskulpturen nach Virginia Satir oder die lösungsorientierten Ansätze der Schule von Milwaukee.
Die Grundannahmen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wie die Double-Bind-Hypothese von Gregory Bateson und Paul Watzlawick oder die anfängliche Gleichsetzung von Familie und System waren zwar prägend in der Gründungsphase der Systemischen Therapie. Sie gelten systemischen Therapeuten heute jedoch als überholt. Die heutige Theoriebildung wurde stark von der biologischen Systemtheorie der Chilenen Humberto Maturana und Francisco Varela beeinflusst, die dann vonNiklas Luhmann soziologischer Systemtheorie erweitert und ergänzt wurde.
Systemische Therapie: Das Mailänder Modell
Einen wesentlichen theoriegeschichtlichen aber auch praktischen Meilenstein in der (systemischen) Familientherapie stellt das Mailänder Modell der Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata dar. Sie wurden kontinuierlich unterstützt von Paul Watzlawick, der regelmäßig nach Mailand reiste und die Ergebnisse des dortigen Zentrums für Familientherapie mit den Therapeuten und Therapeutinnen diskutierte. Die Mailänder Gruppe erzielte in kurzer Zeit Erfolge bei Schizophrenie von Familienmitgliedern und bei Ernährungsstörungen. Bis heute prägend ist die Methodik: Therapeut und Klienten sitzen in einem Raum, räumlich getrennt, aber doch beobachtet von den Co-Therapeuten. Diese verfolgen die Therapie durch Einwegscheibe oder Videoübertragung. Behandelnde und beobachtende Therapeuten besprechen das Konzept der Therapiesitzung (Hypothesendiskussion). Das Gespräch führt der eigentliche Therapeut. Gegebenenfalls halten Therapeut und Co-Therapeut(en) während kurzer Unterbrechungen Rücksprache. Nach Ende des Gesprächs berät sich das Therapeutenteam um eine optimale Abschlussintervention (z.B. eine Hausaufgabe oder eine Symptomdeutung) zu finden, die den Klienten direkt im Anschluss mitgeteilt wird. Sinn dieser Intervention ist, das System (aus Familienmitgliedern und oder wichtigen Anderen) in ihren Interaktionsmustern zu verstören und sekundär die beklagte Symptomatik zu verändern.
Systemische Therapie: Virginia Satir, Tom Andersen
Virginia Satir gilt als Mutter der systemischen Therapie. Sie hat das systemisches Repertoire und die Methodik erweitert und weiterentwickelt – durch die Familienskulptur, die Familienrekonstruktion und die Parts Party. Dadurch können biographische Muster und transgenerationale Problemstellungen entdeckt und bearbeitet werden, bzw. im dritten Fall eigene Persönlichkeitsanteile sichtbar gemacht und integriert werden. Die Amerikanerin Virginia Satir gab viele Seminare in Europa und beeinflusste nicht nur die systemische Gemeinde, sondern auch – von ihr selbst durchaus skeptisch gesehen – die Gründung von NLP oder der Familienaufstellung nach Bert Hellinger.
Vom norwegischen Sozialpsychiater Tom Andersen wurde das therapeutische Setting um das so genannte Reflecting Team erweitert. Dabei tauschen (in der Regel) am Ende einer Therapiesitzung Therapeut und Klient(en) mit dem Co-Therapeuten-Team die Plätze. Therapeut und Klient(en) beobachten nun, wie das Co-Therapeuten-Team das bisherige Geschehen aus ihrer Sicht in einer hilfreichen und unterstützenden Art und Weise reflektiert. Der erhöhte Aufwand (mehrere Therapeuten) bringt eine höhere Vielfalt der Perspektiven, vermindert Therapiefehler und Einseitigkeiten und wird mit hoher Effektivität belohnt (nur sehr wenige Sitzungen sind typischerweise notwendig).
Systemische Therapie: Heidelberger Schule, Michael White, Aufstellungsarbeit
Der deutsche Psychoanalytiker und Pionier der Familientherapie Helm Stierlin war von 1974 bis 1991 Inhaber des Lehrstuhls für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Um ihn sammelte sich ein Kreis junger und engagierter Therapeuten, die [Heidelberger Schule, und propagierte den narrativen Ansatz, Mehrgenerationenperspektive, Genogramm und Paartherapie. Zu Stierlins Mitarbeitern zählten Arnold Retzer, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon und Gunthard Weber.
Beeinflusst von Michel Foucault und mit kulturanthropologischem Hintergrund hat der australische Sozialarbeiter und Therapeut Michael White den narrativen Ansatz geprägt und weiterentwickelt. Er ermutigt seine Klienten und Klientinnen zu neuen – oft lösungsorientierten – Erzählmustern, fordert sie auf, Briefe an sich selbst zu schreiben, und fördert therapeutische Sprachübungen im Gefolge des Konstruktivismus.
Familienaufstellung und Systemaufstellung sind heute im deutschen Sprachraum weit verbreitet. Als weitere Protagonisten der Aufstellungsarbeit gelten Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd in München, Guni-Leila Baxa, Christine Essen und Siegfried Essen in Graz, sowie Gunthard Weber in Heidelberg und Wiesloch. Für Systemische Strukturaufstellungen und für Organisationsaufstellungen bestehen inzwischen eigene Ausbildungslehrgänge, auch Teamaufstellung|Teamaufstellungen werden zunehmend in Wirtschaft, Verwaltung und Non-Profit-Organisationen eingesetzt.
Systemische Therapie: Schule von Milwaukee, Insa Sparrer
Insoo Kim Berg und Steve de Shazer konzipierten in Milwaukee lösungsorientierte bzw. lösungsfokussierte Therapie (lösungsorientierter Ansatz). Grundlegend beeinflusst vom österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein geht dieser Ansatz davon aus, dass Problem und Lösung zwei verschiedenen Welten angehören. Die Problemstellung tritt in den Hintergrund, ebenso die Familie als System (mit den Familienmitgliedern als Elementen). Das gesamte “Therapiegeschehen” wird als Prozess der Entwicklung und Loslösung vom Problem modelliert. Wichtige Instrumente des Lösungsfokussierung sind Wertschätzung, Skalierung und die Wunder-Frage.
Insa Sparrer, Schülerin von Virginia Satir und Steve de Shazer, hat aus deren Ansätzen seit 2001 ein radikales Konzept der Therapie ohne hörbare Antworten geformt. Die Therapeutin stellt lösungsfokussierte Fragen, kennt aber das Problem nicht. Klient oder Klientin geben – stumm – zu verstehen, dass sie die jeweilige Frage für sich selbst beantwortet haben. So führt die Therapeutin den Klienten oder die Klientin konsequent in den therapeutischen Lösungsraum, ohne das Problem auch nur ansatzweise zu kennen. Diese Technik ist insbesondere für einmalige Sitzungen konzipiert und markiert das exakte Gegenteil der Psychoanalyse, in der ein Analytiker, eine Analytikerin in jahrelanger Arbeit, drei- bis viermal wöchentlich alle Geheimnisse und das tiefe Unbewußte seiner Patientin, seines Patienten erkundet. Außerdem verknüpft Sparrer Aufstellungsarbeit und Lösungsfokussierung zu einem Lösungsgeometrischen Interview.
Systemische Therapie: Theorieentwicklung
Die Grundlagen der Systemischen Therapie basieren auf den Werken von Gregory Bateson (resp. des Double Bind/Doppelbindung-Modells) und sind des Weiteren geprägt von der Philosophie des radikalen Konstruktivismus (Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld) sowie von Paul Watzlawick und den Ansätzen von Steve de Shazer, als Begründer des Lösungsorientierten Ansatzes. Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sind auch Einflüsse der biologischen Systemtheorie von Humberto Maturana (Grundlagenbuch: Der Baum der Erkenntnis) und der soziologisch/kommuníkationstheoretischen Systemtheorie von Niklas Luhmann festzustellen.
Systemische Therapie: Therapieansatz
Der historisch aus der Familientherapie entwickelte Ansatz sieht das familiäre System bzw. das organisatorische System eines Unternehmens als Ressource, auf dem aufbauend das einzelne Mitglied sowohl seine Fähigkeiten und Stärken entwickeln als auch Verhaltensstörungen entwickeln kann. Zeigt ein Mitglied der Gruppe psychische oder Verhaltensauffälligkeiten, so wird der Betreffende als Symptomträger für das Gesamtsystem betrachtet. Dies kann sich beispielsweise in typischen privaten Konflikten mit dem Partner oder in immer wiederkehrenden Problemen mit Kunden oder Kollegen zeigen.
Die Weiterentwicklungen zu Systemischen Therapie kennen bis heute keine dezidierte Störungslehre bzw. wird eine Diagnostik von “Störungen” oder gar “psychischen Krankheiten” samt traditionellenPsychopathologie-Konzeptionen größtenteils explizit als inadäquat abgelehnt. Dies hat einerseits die theoretische Nähe zu losungsfokussierten Ansätzen zur Folge und dürfte gleichzeitig den größten und bislang kaum zu überwindenden Gegensatz zu Grundorientierungen der etablierten psychotherapeutischen Versorgung und dem Selbstverständnis des deutschen Gesundheitssystems ausmachen, das weitgehend störungsorientiert operiert und theoretisch hauptsächlich behavioristisch oder psychoanalytisch orientiert ist. Soziale oder psychische Auffälligkeiten werden nicht als “krank” bzw. pathologisch sondern als prinzipiell verstehbare Reaktion auf Probleme oder Anforderungen gesehen, die gelegentlich selbst problematisch sein können.
Systemische Therapie: Vorgehensweisen
Als wichtigster Startpunkt einer Systemischen Therapie hat sich eine möglichst präzise Auftragsklärung im Verhältnis von Therapeut und Klient/Kunde (die Bezeichnung Patient wird überwiegend abgelehnt) herausgebildet. Sind Ziele konkretisiert und für Klienten/Kunden und Therapeuten akzeptabel, kann die eigentliche Therapie beginnen. Sollte sich eine Therapie über mehrere Sitzungen erstecken, empfiehlt sich eine gelegentliche neue Auftragsklärung, da sich Ziele über die zeit einer Therapie ändern können.
Als präferierte Form werden wenige Termine pro Therapie mit wenn möglich größeren zeitlichen Abständen zwischen den einzelnen Sitzungen gesehen, in denen die Klienten/Kunden eventuelle neue Erkenntnisse aus den Sitzungen in ihrer eigenen Lebenspraxis ausprobieren und/oder so genannte Hausaufgaben erledigen können. Insofern zeichnet sich die systemtherapeutische Vorgehensweise durch Sparsamkeit aus, die den Schwerpunkt auf Eigeninitiative des Klienten/Kunden setzt.
Gebräuchliche Techniken, Interventionen und Methoden sind:
- Zirkuläre Frage, die auf den vermuteten Standpunkt Dritter (auch Anwesender) abzielen
- Skalenfrage, zur Verdeutlichung von Unterschieden und Fortschritten
- Positives Konnotieren, das die positiven Aspekte von Problematischen Sachverhalten herausarbeitet
- Reframing von Sachverhalten, um Bedeutungs- bzw. Interpretationsveränderungen anzuregen
- Paradoxe Intervention, idR. Verschreibung des problematischen Verhaltens, um Automatismen zu verändern
- Hausaufgaben diversester und individuell angepasster Art zur Erledigung zwischen den Sitzungen
- Metaphernarbeit, Parabeln und Geschichten als Umgehungstechnik für potentielle “Widerstände”
- Ausnahmen zum beklagten Sachverhalt, um die Änderbarkeit von als statisch angenommenen Sachverhalten zu verdeutlichen
- Massiver Verwendung von Konjunktiven zu Fokussierung auf Optionen und Möglichkeiten
- Familienskulptur, Darstellen von Familienbeziehungen als Standbild aus Personen im Raum
- Soziogramm, die grafische Darstellung der sozialen Beziehungen
- Reflecting Team von Tom Anderson und viele Andere mehr.
Systemische Therapie: Forschung
Eine wissenschaftliche Studie, die die beiden Dachverbände Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) und Systemische Gesellschaft (SG)) dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie im Sommer 2006 vorgelegt haben, belegt, dass systemische Therapie und Familientherapie wirksame und kostengünstige Psychotherapieverfahren mit sehr guten Langzeiteffekten sind. Diese Forschungsstudie hat mehr als 80 RCT-Studien randomisierte, kontrollierte Studien) erfasst, die die Effektivität von systemischer und Familientherapie belegen. Die Verbände wollen mit ihrer Expertise diesen Therapierichtungen zu offizieller Anerkennung in Deutschland verhelfen. Eine abschließende Stellungnahme der zuständigen Gremien ist bislang nicht erfolgt.
Systemische Therapie: Kritik
An der Systemische Therapie wird vor allem bemängelt, dass sie über kein Psychopathologie-Konzept und keine dezidierte Störungstheorie verfügt. Dieser Punkt führte u.A. zu Akzeptanzschwierigkeiten bei der Anerkennung der Therapierichtung durch die für Kassenleistungen zuständigen Gremien in D. Darüber hinaus existiert, anders als beispielsweise in der Psychoanalyse, in der Systemische Therapie keine bisher breit akzeptierte Theorie der Psyche. Insofern ist auch erklärlich, dass die Methoden der Systemische Therapie trotz Effektivität im Einzelnen durchaus einen heuristischen bzw. eklektizistischen Charakter. Weiter ist die Ausbildung zum Systemischen Therapeuten nicht sehr homogen und partiell quantitativ begrenzt. So gibt es mehr als einen Dachverband und divergierende Selbstverständnisse der ausbildenden Institute.
Systemische Therapie: Literatur
- Andrea Brandl-Nebehay et.al. (Hrsg.): “Systemische Familientherapie. Grundlagen, Methoden und aktuelle Trends.2 Facultas, Wien 1998
- Jürgen Kriz: “Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Eine Einführung.” 3. Auflage, Facultas, Wien, Stuttgart 1999
- Jürgen Kriz: “Grundkonzepte der Psychotherapie” 6., vollst. überarb. Auflage, Beltz, Weinheim 2007
- Klaus Mücke: “Probleme sind Lösungen. Systemische Beratung und Psychotherapie – ein pragmatischer Ansatz.” 3. Auflage
- Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer: “Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung.” 9. Auflage, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003
- Kirstin von Sydow, Stefan Beher, Rüdiger Retzlaff: “Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie”. Hogrefe-Verlag, Göttingen 2006
- Christiane und Alexander Sautter: “Alltagswege zur Liebe. Familienstellen als Erkenntnisprozess. Eine Einführung in die systemische Arbeit nach Virginia Satir. Schwerpunkt: Systemaufstellung mit Familiensystemen.”, überarbeitete Auflage, Ibera Verlag, Wien 2006
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